Katja gibt uns die Kraft dazu

Katja mit ihrem Bruder Sascha
Katja mit ihrem Bruder Sascha

Obwohl ich in unserer Vereinszeitschrift „Blickpunkt“ schon oft über den Krankheitsverlauf meiner Tochter Katja berichtet habe, ist dieser Bericht eine neue Herausforderung für mich, um unsere Erfahrungen denen weiterzugeben, die sie noch nicht kennen. Vielleicht kann ich den Eltern und Familien, die noch am Anfang stehen, auch ein wenig Mut machen, denn auch in einem Leben mit TSC gibt es immer wieder Lichtblicke. Ebenso kann es aber Grenzen und Dinge geben, die man nicht ändern kann und akzeptieren muss, selbst wenn es einem noch so schwerfällt. Wir zählen mittlerweile das Jahr 2017 und sind nun schon seit 39 Jahren mit TSC konfrontiert, haben Höhen und Tiefen erlebt und mussten lernen mit der Krankheit unserer Tochter und allem Drumherum umzugehen.

 

Am 23. August 1978 beginnt unsere Geschichte: Katja wurde als unser zweites Kind, nach unserem jetzt 46-jährigen Sohn Sascha, als vermeintlich gesund geboren. Weder mein Mann, noch Sascha, noch ich, sind von der Tuberösen Sklerose betroffen. Katja hingegen leidet an einer schweren Ausprägung dieser Erkrankung. Sie ist heute mit ihren 39 Jahren aufgrund einer größeren Hirnbeteiligung durch die Tuberösen Sklerose unser „kleines Kind“ geblieben und in allen Lebenslagen hilflos. Von dem was sie einmal erlernt hat und ihr begrenzt möglich war, ist vieles wieder verloren gegangen. Ihr geistiger Entwicklungsstand entspricht dem eines ein- bis anderthalbjährigen Kindes. Verantwortlich dafür sind zahlreiche Streuherde und der ungünstige Sitz der für die Krankheit typischen Tumoren im Gehirn, wodurch sie auch ein therapieresistentes Anfallsleiden hat. Bereits im Alter von fünf Wochen bekam Katja mehrmals täglich Krampfanfälle, die oft medikamentöse Um- oder Neueinstellungen der Antiepileptika sowie Klinikaufenthalte nach sich zogen, was uns sehr hilflos und traurig machte. Im Alter von dreieinhalb Monaten wurde durch eine Computertomografie dann die Diagnose „Tuberöse Sklerose“ gestellt, die für uns eine Welt zusammenbrechen ließ.

 

Als Katja ungefähr zwei Jahre alt war, begann eine schlimme Zeit mit Verhaltensauffälligkeiten, die bei TSC-Betroffenen nicht selten vorkommen. Schreiattacken, Selbstverletzungen und Aggressionen kamen wie aus heiterem Himmel. Sie biss sich in die Hand oder schlug mit den Händen auf den Kopf und diesen abwechselnd auf den Fußboden oder gegen die Wand. Dass sie mit Gegenständen umherwarf, war keine Seltenheit. Trotz allem hatten wir sie sehr lieb. Es war und ist besondere Liebe zu einem besonderen Kind, das ja nichts für sein Fehlverhalten kann. Herrschte ein totales Chaos in ihrem Gehirn oder hatte sie Schmerzen? Wir wussten es nicht, weil sie uns nicht mitteilen konnte, was sie fühlte. So plötzlich wie die Attacken gekommen waren, verschwanden sie aber auch wieder. Danach war sie eine völlig entspannte Katja, lächelte und nahm ihren über alles geliebten Daumen, den sie auch noch heute gerne nimmt, in den Mund.

 

Katja wurde dann zu meiner Entlastung und ohne längere Wartezeit in einem Sonderkindergarten aufgenommen. In dieser Zeit durften wir einige Fortschritte miterleben. Katja hatte gelernt sich uns mitzuteilen. Es handelte sich zumeist nur um kaum verständliche Worte (circa 50), aber dennoch verstanden wir sie. Katja führte sogar kleine Anweisungen aus. Sie ging zum Beispiel regelmäßig aufs „Töpfchen“ und holte es auch selbst, wenn wir sie darum gebeten haben. Sauber ist sie jedoch nie geworden. Für uns war es auch schön mit anzusehen, dass Katja und ihr Bruder gerne miteinander tobten und immer ein sehr inniges Bruder-Schwester-Verhältnis hatten.

 

Katja erhielt, wie auch schon zuvor, innerhalb des Kindergartens entwicklungsfördernde Therapien wie Logopädie, Reittherapie und Krankengymnastik. Sie litt nun aber auch unter massiven Schlafstörungen und schlief fast keine Nacht mehr. Auch am Tag holte sie den Schlaf nicht nach. Die Unruhephasen gehörten von jetzt an zur Tagesordnung.

 

Katja bei ihrer Lieblingsbeschäftigung
Katja bei ihrer Lieblingsbeschäftigung

Wir befanden uns in dieser schwierigen Situation bereits seit über drei Jahren. Sascha bekam Schulprobleme und unsere Familie war nicht mehr die, die sie einmal war. Wir mussten also eine Lösung finden und trafen eine schwere Entscheidung, mit der wir uns schon länger befassten. Wir gaben Katja in die Obhut der Diakonischen Stiftung Wittekindshof. Hierbei handelt es sich um eine Einrichtung, die mit dem Auto glücklicherweise nur zwei bis drei Minuten von unserem zu Hause entfernt liegt. Alles ging sehr schnell und wieder ohne große Wartezeit. Wir dachten und hofften insgeheim, dass man Katjas Verhaltensweisen dort in den Griff bekommt, um sie vielleicht irgendwann wieder nach Hause zurückholen zu können. Die Attacken hielten aber noch einige Jahre an und Katja blieb im Wittekindshof. Sie hatte sich dort relativ gut eingelebt und wurde liebevoll betreut. Durch Katjas Unterbringung im Wittekindshof hatten auch wir die notwendige Zeit neue Kräfte zu sammeln, um für sie da zu sein. Wir waren wieder eine Familie wie früher und Saschas schulische Leistungen verbesserten sich. Damit der familiäre Kontakt zu Katja bestehen bleiben konnte, holten und holen wir sie oft nach Hause und kümmern uns auch weiterhin liebevoll um sie und ihre Belange.

 

Im Wittekindshof besuchte Katja die Schule, auch wenn sie wegen ihrer schweren Hirnbeteiligung keine wirkliche schulische Leistung erbringen konnte. Eine intensive spielerische Beschäftigung wurde ihr dadurch leider auch nie möglich. Das Zerreißen von Papier war - und ist noch - in all den Jahren ihre einzige Beschäftigung. Was Katja dabei empfindet, kann sie uns nicht sagen und lässt sich nur erraten. Vielleicht ist es das besondere Gefühl in den Fingern oder es sind die Geräusche, die beim Zerreißen erzeugt werden. Wir führen diese Gewohnheit aber überwiegend auf die autistischen Verhaltensweisen von Katja zurück, die auch bei ihr geringfügig vorhanden sind. Ihre Freude daran ging sogar soweit, dass sie anfing ihre Kleidung und die Pampers zu zerreißen. Katja bekam dann für begrenzte Zeit eine Schutzkleidung, die aus einem speziellen Material angefertigt wurde. Als sie wieder normale Kleidung trug, versuchte sie sich noch einmal daran sie zu zerreißen, hörte dann aber wieder von alleine und für immer damit auf.

 

Katjas größtes Problem war jedoch schon immer ihr tägliches Anfallsleiden, wodurch sie schon zigtausende Anfälle erleiden musste. Damalige Untersuchungen ergaben, dass eine epilepsiechirurgische Behandlung bei ihr nicht möglich ist. So haben wir ihr auf Anraten der behandelnden Ärzte einen Vagus-Nerv-Stimulator implantieren lassen, der durch eine besondere Stimulation im Gehirn den Anfällen entgegenwirken sollte. Anfangs half das auch, doch irgendwann war fast alles wieder beim Alten. Der einzige Unterschied zu vorher besteht darin, dass Katja bisher keine Notfallmedikation mehr benötigte, was ja wiederum auch schon ein Erfolg ist. In Katjas Nieren bildeten sich im Laufe der Zeit zudem Tumoren, beziehungsweise Angiomyolipome, die toi, toi, toi, bis heute gutartig geblieben sind. Halbjährliche Kontrolluntersuchungen zumeist mit einem Ultraschall, sind jedoch erforderlich, um bei Veränderungen oder einem möglichen Wachstum rechtzeitig mit einer entsprechenden Behandlung eingreifen und das Einbluten verhindern zu können. Eine Lungenbeteiligung, wie sie bei TSC-betroffenen Frauen vorkommen kann, hat Katja Gott sei Dank nicht.

 

Bei all diesen Problemen sind wir den Mitarbeitern der Diakonischen Stiftung Wittekindshof für ihre große Unterstützung und ihre Fürsorge in allen Jahren für Katja sehr dankbar. Sie war bis zum 25. Lebensjahr im Haus „Kinderheimat“ und zog dann wegen ihres Erwachsenenalters um in das „Haus Bethanien“. Sie gewöhnte sich erstaunlich schnell an ihre neuen Betreuer, die es alle gut mit ihr meinen, und ebenso an ihre neuen Mitbewohner, von denen eine junge Frau ebenfalls an der Tuberösen Sklerose erkrankt ist, ihnen jedoch eine gegenseitige Kontaktaufnahme durch die mentale Retardierung leider nicht möglich ist. Katja nimmt nach wie vor an tagesstrukturierenden Angeboten durch erfahrene Therapeuten teil. Sie geht in die Musiktherapie und erhält Krankengymnastik. Im Vergleich zu früher ist Katja sehr ruhig geworden und hat ein großes Schlafbedürfnis. In jungen Jahren konnte sie mal laufen wie ein Wieselchen, baute aber vor einigen Jahren körperlich sehr ab, weshalb sie nur noch im Rollstuhl befördert werden kann. Ein Lauftraining, das zu dem damaligen Zeitpunkt zum Erhalt der noch bestehenden Gehfähigkeit möglich war, musste abgebrochen werden, weil Katja nicht mehr auf den Beinen stehen konnte. Der zunehmende Bewegungsmangel hatte dann auch zur Folge, dass Katja obendrein an hochgradigem Diabetes erkrankte und bis heute medikamentös behandelt wird. Das aber haben wir durch zusätzliche Ernährungsumstellung und nachfolgender Gewichtsabnahme gut in den Griff bekommen. Ein elektronischer Bewegungstrainer bewegt jetzt hin und wieder wie beim Fahrradfahren ihre Beine, damit die Muskeln nicht ganz erschlaffen.

Katja hört sehr genau zu
Katja hört sehr genau zu

In ihrem Rollstuhl mag Katja gar nicht gerne lange sitzen. Nach einiger Zeit fängt sie an zu nöckeln und freut sich, wenn sie dann ins Bett gelegt wird und schlafen, fernsehen oder sich einfach nur wohlfühlen darf. So ist es auch bei uns zu Hause. Nur liegt sie bei uns nicht im Bett, sondern auf ihrer geliebten Couch. Ihren Wortschatz hat sie leider ganz verloren. Ihr Wortverständnis und auch die Wahrnehmung sind aber größer, als man es auf den ersten Blick vermuten würde. Wenn wir ihr beispielsweise eine nette Geschichte oder etwas Lustiges aus ihrem Leben erzählen, hält sie Blickkontakt und hört ganz genau zu. Sie lächelt und lacht dann auch schon mal laut dabei.

 

Inzwischen ist Katja Tante eines gesunden und fröhlichen 6-Monate alten Neffen geworden, unser erster Enkel, der uns dankbar und sehr viel Freude macht, aber leider nicht bei uns in der Nähe wohnt. Zeigen wir Katja jedoch Videos oder Bilder von ihm auf dem Handy, schaut sie auch darauf, ganz gezielt und lächelnd, und gibt ihm auch mal ein „Küsschen“ über das Display.

 

Früher freuten wir uns über jede Kleinigkeit, die Katja möglich war. Heute erfreuen wir uns daran was ihr noch möglich ist. Unsere Katja hat seit ihrer Geburt schon viel durchgemacht und war oft sehr krank. Aber sie hat immer wieder gekämpft und uns gezeigt was Tapferkeit ist. Meine Familie und ich standen ihr dabei immer zur Seite. Wir begleiteten sie zu Kontrolluntersuchungen und ließen bzw. lassen sie auch bei Krankenhausaufenthalten niemals alleine. Auch wenn wir die Erfahrung machen mussten, dass Katja durch den schweren Verlauf der Tuberösen Sklerose in ihren Fähigkeiten sehr eingeschränkt wurde, haben wir nie die Fröhlichkeit verloren und viele schöne Stunden zusammen erleben dürfen. Wenn ich weiter nachdenke, hat mir auch die Zeit meiner Vorstandstätigkeit, in der ich einige Jahre stellvertretende Bundesvorsitzende und danach elf Jahre Bundesvorsitzende sein durfte, bisher viel Gutes gegeben und mein Leben geprägt. Vor allem habe ich dadurch viele liebe und nette Menschen kennenlernen dürfen, was eine Bereicherung für mich ist und wofür ich sehr dankbar bin.

 

Wir wünschten uns natürlich, Katja wäre gesund und fragen uns auch oft: „Was wäre, wenn…?“ Ein Leben mit Katja ohne TSC ist für uns nach all den Jahren undenkbar geworden. Nicht wir machen uns Mut, sondern Katja ist es, die uns die Kraft dazu gibt.