Melodien und Lieder


Vor nun schon elf Jahren startete meine Tochter Marcella per Notkaiserschnitt mit Komplikationen recht unsanft ins Leben. Die ersten Wochen waren sehr turbulent: ein ständiger Wechsel von Frühchen-, über Wochenbett- und Intensivstation, bis ich die Aussage erhielt, dass Marcella wahrscheinlich Tuberöse Sklerose hat. Eine Krankheit von der ich vorher, wie sicherlich die meisten von uns, nichts gehört hatte. Als wir beide nach drei Wochen nach Hause entlassen wurden, hielt ich mich noch an dem Funken Hoffnung fest, dass es ja erstmal nur ein Verdacht war. Leider bestätigte sich jedoch der Verdacht, als nach einem auffälligen EEG und epileptischen Anfällen ein Schädel-MRT gemacht wurde. Nun gab es keine Zweifel mehr: Marcella hat TSC.

 

Trotz der Diagnose versuchte ich unser Leben dennoch so normal wie möglich zu gestalten und hoffte, dass Marcella zu den leichteren Fällen gehören könnte. Ich war damals alleinerziehend und konnte mich voll und ganz auf mein kleines Mädchen konzentrieren. Musik spielte dabei schon immer eine sehr wichtige Rolle in unserem Leben. Ich hoffte durch Musik die geistige Entwicklung positiv beeinflussen zu können, sang ihr den ganzen Tag Lieder vor und wir gingen zur musikalischen Früherziehung. Zur Beruhigung spielte ich ihr außerdem viel klassische Musik vor. Das wirkte immer.

 

Als Marcella größer wurde, merkte ich aber recht schnell, dass sie keinerlei Sprachentwicklung zeigte. Sie versuchte nicht mal etwas nachzusprechen und reagierte auf Sprache gar nicht mehr. Nach einer kleinen Arzt-Odyssee wurde schließlich festgestellt, dass Marcella eine Schwerhörigkeit hat. Sie kapselte sich immer mehr von ihrer Außenwelt ab und ich konnte nur noch über Musik zu ihr vordringen. Denn auf Musik - sie konnte noch so leise sein - reagierte sie immer. So las ich ihr auch nicht ihre Bilderbücher vor, sondern sang zu jedem Bild ein Lied. Ich erhielt zwar keine verbale Resonanz, aber Marcella schien glücklich zu sein.

 

Eines Tages kam dann Marcella’s Stützerzieherin in der Sonderintegrationskita auf mich zu und sagte, dass ein anderes Kind zur Musiktherapie gehen würde und ob das nicht auch etwas für Marcella sein könnte.

 

Ich stand der Sache anfangs recht skeptisch gegenüber, wollte aber nichts unversucht lassen. Die Musiktherapie musste ich über den Jugendpsychiatrischen Dienst des Jugendamtes beantragen. Nachdem ich Marcella dort mehrmals vorgestellt hatte, bekamen wir die Therapie für ein Jahr bewilligt. Es handelte sich um eine Musiktherapie mit psychotherapeutischen Anteilen. Unser Ziel war es die Autoaggressionen abzubauen, das Mutter-Kind-Verhältnis zu verbessern und vor allem eine Sprachanbahnung aufzubauen. Ich nahm gerne in Kauf, dass es für mich dann auch Sitzungen mit der Therapeutin gab, da Marcella sehr viel Spaß an der Therapie hatte. Sie merkte, dass sie mit ihrer Stimme etwas erreichen konnte und lernte über Musik, wann die Therapie anfing und endete - Effekte, die ich dann auch wunderbar im Alltag einsetzen konnte. Besonders dankbar bin ich für die Lieder, mit denen ich Wutanfällen vorbeugen kann, wenn es nicht nach Marcella’s Willen geht. Zwar gelingt das nicht immer, aber das Singen hat dann zumindest eine beruhigende Wirkung auf mich.

 

Das für mich mit Abstand erstaunlichste in der Zeit der Therapie war jedoch, dass Marcella all die Lieder abgespeichert hatte, die ich ihr früher vorgesungen hatte. Eines Tages nahm sie ihr Babystoffbilderbuch und summte die passende Melodie zu dem entsprechenden Bild. Ich hätte vor Glück Bäume ausreißen können.

 

Nach anderthalb Jahren endete dann die Therapie, die wir beide sehr positiv erlebt haben. Marcella hatte sich im Gegensatz zu anderen Therapien nie verweigerte, sondern bekam ganz im Gegenteil, sogar teilweise regelrecht Panik, wenn wir auf der Parkplatzsuche an dem Haus vorbeifuhren. Mit den dort erworbenen Kenntnissen sowie dem TEACCH-Konzept, ganz viel Geduld und nun auch Logopädie (die Therapeutin war sehr dankbar für den Tipp mit Musik und Rhythmus zu arbeiten) kann sich Marcella damit zumindest nun etwas mitteilen. Weil sie ausdrücken kann was sie will, hat sich damit auch ihr autoaggressives Verhalten enorm verringert.

 

Es ist schön einen Zugang zu ihr bekommen zu haben. Zudem erfreut sie uns mit ganz vielen Liedern aus ihrem enormen Musikrepertoire. Nicht zuletzt auch deswegen hoffe ich natürlich, dass wir ihr noch möglichst viele Gründe zum Singen und Glücklich sein liefern können.